DER RECHTSSTAAT ZERBRÖSELT

Ein (weiterer) Schritt zur Zerstörung des Rechtsstaates ist die Einschränkung der Meinungsfreiheit, wie sie in der vom Wiener Landtag beschlossenen Novelle zum Wiener Landes-Sicherheitsgesetz enthalten ist. Die Polizei erhält nun das Recht, Lebensschützer wegzuweisen, wenn „auf Personen, die sich einer sozialen oder medizinischen Einrichtung nähern, psychischer Druck wie zum Beispiel durch nachdrückliches Ansprechen oder (versuchte) Übergabe von Gegenständen ausgeübt wird“. Dieser an sich lächerliche Versuch, die angestrebte Einschränkung der Meinungsfreiheit zu erreichen, sollte bei echten Demokraten alle Alarmglocken läuten lassen, so es solche noch gibt. Es sei auf das letzte Buch von Papst Johannes Paul II. „Erinnerung und Identität“ hingewiesen, wo von neuen Formen des Totalitarismus die Rede ist, die „sich heimtückisch verbergen unter dem Anschein der Demokratie“. Besser könnte man die Dinge – also diesen Gesetzesbeschluß des Wiener Landtages – nicht beim Namen nennen. Es ist bezeichnend, daß im gegebenen Zusammenhang von den Medien auf die kleine Anzahl von „radikalen Abtreibungsgegnern“ hingewiesen wird. Als ob es in der Demokratie bzw. beim Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit darauf ankäme, von wie vielen Menschen eine Meinung vertreten wird. Die Rede ist auch von „religiösen Fanatikern“. Diese katholischen Lebensschützer folgen in Wahrheit aber lediglich inhaltlich und auch in ihrer Handlungsweise den Vorgaben von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Evangelium Vitae. Diese sogenannten Fanatiker sind also nichts anderes als papstreue Katholiken, die ihren Glauben ernst nehmen.

Wer in den 60er-Jahren ein Jusstudium begonnen hat, mußte eine Pflichtvorlesung „Einführung in das juristische Denken“ belegen. Dort lernte er den Unterschied zwischen Naturrechtslehre und Rechtspositivismus. Und letzteres wurde – damals noch unter dem Eindruck des Nationalsozialismus – als etwas äußerst Negatives dargestellt. Es bedeutet nämlich, daß das Recht allein von den formell dazu befugten Organen ausgeht. „Recht“ ist also jeder Beschluß, den die gesetzgebende Versammlung mit der vorgesehenen Mehrheit faßt. Wenn beispielsweise unser Parlament beschließt, alle 70-Jährigen zwangsweise zu töten, dann ist dies „Recht“. Im Gegensatz dazu steht die Naturrechtslehre, die jedem Menschen von Natur aus zustehende Rechte kennt, die entweder auf Gott zurückgeführt werden oder auf die Vernunft. Und man hat uns damals gelehrt, daß alle Abscheulichkeiten der nationalsozialistischen Herrschaft, was die rechtliche Betrachtungsweise betrifft, darauf zurückzuführen wären, daß dieses Naturrecht mißachtet worden sei.

Mit der Einführung der Fristenregelung im Jahr 1975 feierte der Rechtspositivismus fröhliche Urständ. Und Rechtsgelehrte sprachen damals mit Grund vom Beginn der Dritten Republik. Mit einem Mal sah es der Rechtsstaat nicht mehr als seine Aufgabe an, die unschuldigsten und hilfsbedürftigsten Menschenwesen zu schützen. Mit einem Mal waren rechtliches und logisches Denken zwei verschiedene Dinge. Das ungeborene Kind wird zwar nach § 22 ABGB geschützt, es hat ein Erbrecht und für seine finanziellen Interessen kann ein Kurator bestellt werden. Von da her gesehen besteht also kein Zweifel, daß es sich um einen existierenden Menschen handelt. Doch das Recht zu leben hat dieser Mensch nicht mehr.

Wie sehr dieser Bruch im juristischen Denken das Rechtsbewußtsein zerstört hat, hat sich gerade in den letzen Jahren an einigen Tiefpunkten der Rechtsentwicklung gezeigt. Der Oberste Gerichtshof hat am 25. Mai 1999 (GZ 1 Ob 91/99 k) eine Entscheidung getroffen, die man nur als Pervertierung des Rechtsbewußtseins und Verfinsterung der Denkfähigkeit bezeichnen kann. Klar und deutlich spricht dieses Höchstgericht aus, daß eine „Mutter“ nicht rechtswidrig handle, wenn sie in Kenntnis, daß ihr Kind mit schweren Behinderungen zur Welt kommen werde, an sich einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen läßt. Und weiters, daß ein Schadenersatzanspruch für den Fall anzunehmen ist, daß es aufgrund eines Beratungsfehlers des behandelnden Arztes zu der bei richtiger Aufklärung nicht gewollten Geburt eines behinderten Kindes kommt. Im Klartext: Das behinderte Kind ist ein Schaden. Dabei ist in dieser Entscheidung in einem anderen Zusammenhang vom „Wert menschlichen Lebens als höchstrangigem Rechtsgut“ die Rede. Und das ist logisch nicht nachvollziehbar.

Ein weiterer Tiefpunkt ist ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes aus Juli 2004, in dem die Richter ungeborenen Kindern das Personsein absprechen. Es sei „weder wünschenswert noch derzeit möglich“ auf die „abstrakte Frage“ zu antworten, ob das ungeborene Kind eine „Person“ im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention sei. Die Entscheidung darüber, ab welchem Zeitpunkt das Leben beginne, liege im Ermessensspielraum der Staaten. Es soll also nicht mehr gelten, was in Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschrieben steht, nämlich daß das Leben des Menschen unverletzlich ist. Ganz im Sinne des Rechtspositivismus bleibt es dem Gesetzgeber überlassen festzulegen, wer Mensch ist und wer nicht. Und damit gibt es – wie in der NS-Zeit – die rechtlich sanktionierte Möglichkeit, zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben zu unterscheiden und das „lebensunwerte“ Leben ganz legal zu vernichten.

Wenn echte Demokraten und katholische Christen nicht endlich aufwachen und ihre vorläufig noch intakten Staatsbürgerrechte wahrnehmen, dann wird es bald eine staatlich sanktionierte Christenverfolgung geben. Die Anzeichen hiefür mehren sich. Ich denke an die Antidiskriminierungsgesetze in verschiedenen europäischen Ländern und an den in wenigen Jahren voll in Kraft tretenden europäischen Haftbefehl, der es möglich macht, daß österreichische Staatsbürger an andere europäische Staaten ausgeliefert werden, wenn sie gegen deren Strafgesetze verstoßen. Die katholische Lehre über Homosexualität zu äußern, ist in einigen Ländern bereits eine kriminelle Handlung. Den Lebensschützern könnte ein ähnliches Schicksal drohen, denn sie diskriminieren ja „die Frauen“. Wenn Höchstrichter das Naturrecht mißachten und auf diese Weise das Recht beugen und die Medien der Unterdrückung der Meinungsfreiheit Beifall klatschen, dann ist die offene Verfolgung Andersdenkender bereits im Gange.

veröffentlicht auch von kath.net